Ratgeber

Hilfe, ist mein Kind techniksüchtig? – Tipps von danah boyd

Ein Artikel von , veröffentlicht am 12.03.2018
Foto: natureaddict / Pixabay (CC0)

Wer die Fixierung seiner Kinder auf Smartphones verändern will, muss ab und an auch sein eigenes Nutzungsverhalten hinterfragen. Die US-amerikanische Medien- und Sozialforscherin danah boyd hat praktische Tipps für Eltern, die wirksamer sein könnten als starre Regeln.

Hinweis: Anders als die anderen Inhalte auf mobilsicher.de unterliegt dieser Text nicht der Creative-Commons-Lizenz. Die englische Originalversion Panicked about Kids' Addiction to Tech? von danah boyd (Eigenschreibweise) erschien am 24. Januar 2018 bei NewCo Shift. Der Text wurde für Mobilsicher übersetzt von Inga Pöting.

Zwei Dinge, die Sie tun können

Seit große Apple-Investoren die Firma aufgefordert haben, gezielt etwas gegen die Handysucht von Kindern zu tun, hat mich eine Flut von Anrufen mit der Bitte um Stellungnahme erreicht. Ich würde am liebsten erst mal laut schreien. Denn über das wenig hilfreiche Narrativ der „Sucht“ habe ich bereits ausführlich in meinem Buch Es ist kompliziert: Das Leben der Teenager in sozialen Netzwerken geschrieben.

Damals galt die größte Sorge noch den sozialen Medien. Heute geht es um Handys, aber die Geschichte ist dieselbe: Junge Menschen nutzen Technik, um ununterbrochen mit ihren Freunden zu kommunizieren, und zwar zu einem Zeitpunkt in ihrem Leben, zu dem sich alles um soziale Bande dreht und darum, den eigenen Platz in der Gesellschaft zu finden.

So sehr ich sämtliche Eltern in meinem Umfeld anbrüllen will, dass sie sich bitte mal entspannen sollen, ist mir durchaus schmerzlich bewusst, wie wirkungslos das wäre. Eltern sehen nicht gerne ein, dass sie Teil des Problems sind oder dass ihre Bemühungen, ihre Kinder zu beschützen und zu unterstützen, möglicherweise voll nach hinten losgehen. Wenn Sie live und in Farbe erleben möchten, was ich meine, schauen Sie sich die „Black Mirror“-Folge „Arkangel“ an (Trailer hier).

Seit einiger Zeit versuche ich, kleine Anregungen zu finden, die einen großen Unterschied machen können. Hilfestellungen für Eltern, um die Probleme in den Griff zu kriegen, die ihnen Sorge bereiten. Im Folgenden finden Sie daher zwei Ansätze zum Umgang mit „Sucht“ für verschiedene Altersgruppen.

Die Kleinen erziehen: Die Nutzung des Smartphones thematisieren

Kinder lernen Normen und Werte in den ersten Lebensjahren durch Beobachtung ihrer Eltern und anderer Bezugspersonen kennen. Sie imitieren unsere Sprache und unsere Gesichtsausdrücke ebenso wie unsere Marotten und schrulligen Vorlieben. Nichts ist so befriedigend und gleichzeitig so erschreckend, wie das eigene Kind genau das wiederholen zu hören, was man selbst allzu oft sagt.

Und wissen Sie was? Auch sämtliche Anhaltspunkte zur Techniknutzung erhalten Kinder von den Menschen in ihrer Umgebung. Ein Kind müsste schon ganz allein im Wald aufwachsen, um zu übersehen, dass die Menschen ihre Handys lieben. Kaum sind die Kinder auf der Welt, fuchteln die Leute schon mit Handykameras vor ihren Gesichtern herum, nutzen ihr Smartphone, um sich aus Situationen auszuklinken und ignorieren sie, während sie wie besessen in ihr Telefon sprechen.

Natürlich wünschen Kinder sich die Aufmerksamkeit, die das Handy ihnen stiehlt. Und natürlich wollen sie, dass das Gerät auch für sie etwas Besonderes ist.

Hier also meine Empfehlung für Eltern kleiner Menschen: Erklären Sie, was Sie (gerade) mit Ihrem Handy tun. Jedes Mal, wenn Sie Ihr Smartphone (oder andere technische Geräte) in der Gegenwart Ihrer Kinder in die Hand nehmen, sagen Sie ihnen, was Sie damit vorhaben. Und beziehen Sie Ihre Kinder in die Handlung mit ein, wenn diese es möchten.

  • „Mama versucht herauszufinden, wie lange es dauert, zu Bobby zu fahren. Möchtest du mit mir auf die Karte schauen?“
  • „Papa guckt nach, wie das Wetter wird. Willst du sehen, was da steht?“
  • „Mama will ein Foto von dir machen. Ist das in Ordnung?“
  • „Papa braucht eine kleine Pause und möchte die Schlagzeilen der New York Times lesen. Soll ich sie dir vorlesen?“
  • „Mama hat eine Nachricht von Oma bekommen und muss jetzt antworten. Soll ich ihr etwas von dir ausrichten?“

Der Knackpunkt bei dieser Art von Verbalisierung ist, dass Sie dabei sich selbst und ihre Entscheidung, zum Handy zu greifen, kontrollieren. Es ist doch ziemlich unangenehm, laut zu sagen: „Mama checkt Ihre Arbeits-E-Mails, weil sie das einfach nicht lassen kann, es könnte ja etwas Wichtiges passieren.“

Wenn Sie anfangen, laut auszusprechen, dass Sie sich der Technik zuwenden, wird Ihnen klar werden, wie häufig dies der Fall ist. Und was Sie Ihren Kindern damit als normal vorleben. Sie schauen damit gewissermaßen in einen Spiegel und sehen, was Ihre Kinder lernen. Also überprüfen Sie sich selbst und das, was bei Ihnen zum Standard geworden ist. Sind sie zufrieden mit den Normen und Werten, die Sie gesetzt haben?

Die etwas Größeren erziehen: Gemeinschaftsverträge

Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viele Eltern mir schon erzählt haben, sie hätten zu Hause die Regel, dass ihre Kinder bis zum Zeitpunkt X keine technischen Geräte benutzen dürfen, wobei X „nach dem Abendessen“ oder „wenn die Hausaufgaben fertig sind“ oder irgendein anderer Zeitpunkt sein kann. Wenn ich sie dann frage, ob sie denn ihr eigenes Handy während des Abendessens oder bis nach dem Baden beiseite legen, schauen sie mich ausnahmslos an, als wäre ich eine Außerirdische.

Jugendliche können Heuchelei nicht ausstehen. Nichts untergräbt so schnell das Vertrauen zwischen Eltern und ihren Kindern. Und zur Handysucht ihrer Eltern haben sie so einiges zu sagen! Donnerwetter!

Hier also mein Vorschlag zur Nutzungseinschränkung: Setzen Sie einen Gemeinschaftsvertrag auf. Das ist ein Vertrag, der für jeden im Haus Grenzen definiert – für die Eltern ebenso wie für die Kinder.

Bitten Sie Ihren (Bald-)Teenie, den ersten Vertragsentwurf zu machen. Darin soll festgelegt werden, welche Regeln für alle gelten, worauf er oder sie zu verzichten bereit ist, um gewisse Privilegien beim Technikgebrauch zu erlangen, und auch, worauf die Eltern verzichten sollen. Er oder sie soll außerdem Konsequenzen für Regelverstöße auflisten. (Als Elternteil können Sie sich ebenfalls Regeln überlegen, die Sie für fair halten und sie gegebenenfalls notieren, aber Sie sollten Sie nicht zuerst vorstellen.)

Bitten Sie Ihr Kind anschließend, die fertigen Regeln vorzutragen. Sie werden höchstwahrscheinlich überrascht sein, weil sie viel strikter und strukturierter sind, als Sie erwartet hätten. Steigen Sie dann in die Verhandlung ein.

Vielleicht möchten Sie durchsetzen, dass Sie zum Handy greifen dürfen, wenn die Großmutter anruft, doch dann sollte die Tochter auch das Recht haben, ans Handy zu gehen, wenn die beste Freundin anruft. Solche Sachen. Arbeiten Sie die Regeln durch, aber überlassen Sie Ihrem Kind die Führung. Und dann schreiben Sie die Regeln auf und hängen sie an die Wand – als einen Vertrag, der bei Bedarf neu verhandelt werden kann.

Erziehung jenseits von Sucht

Viele Menschen haben ungesunde Angewohnheiten und Strukturen in ihrem Leben. Manchmal liegt eine physische Abhängigkeit zugrunde, manchmal handelt es sich auch um reine Gewohnheit oder psychologische Krücken. Doch über die gesamte Bandbreite gilt: Die meisten Menschen merken selbst, wenn sie etwas tun, das nicht gesund für sie ist.

Vielleicht sind sie nicht in der Lage, damit aufzuhören. Vielleicht möchten sie auch gar nicht aufhören. Klarheit darüber zu gewinnen, ist Teil der Herausforderung. Wenn Sie den Eindruck haben, dass Ihr Kind eine ungesunde Beziehung zu gewissen Geräten (oder zu irgendetwas anderem in seinem Leben) hat, dann sollten Sie zunächst nachfragen, ob Ihr Kind gleicher Meinung ist.

Wenn Eltern meinen, dass ihr Kind etwas Ungesundes tut, das Kind das aber anders sieht, dann muss die Hilfestellung ganz anders ausfallen, als wenn das Kind ebenfalls das Gefühl hat, dass etwas schiefläuft. Viele Jugendliche wissen ganz genau, dass ihr Bedürfnis, in ständigem Kontakt mit ihren Freunden zu stehen – die Angst, etwas zu verpassen –, ihnen nicht guttut.

Helfen Sie Ihrem Kind, indem Sie gemeinsam Strategien erarbeiten, mit dem Druck umzugehen. Es wird Ihrem Kind auf lange Sicht sehr viel mehr bringen, wenn Sie es bei der Entwicklung solcher Fähigkeiten unterstützen, als wenn Sie einfach Regeln aufstellen.

Wenn die Sicht von Eltern und Kindern auf eine Situation stark voneinander abweicht, sollten Eltern zunächst versuchen zu begreifen, weshalb es diese Abweichung überhaupt gibt. Geht es um Vergnügungssucht? Geht es um die Angst, etwas zu verpassen? Geht es um die emotionale Bindung der Freundschaft? Geht es darum, dass die elterlichen Prioritäten mit den Prioritäten des Kindes in Konflikt stehen?

Was als Nächstes kommt, betrifft Erziehung ganz grundsätzlich. Manche Eltern glauben, dass sie die Herrscher im Haus und ihre Ansprüche Gesetz sind. Andere lassen ihren Kindern alles durchgehen und setzen ihnen nie etwas entgegen. Die meisten Eltern befinden sich irgendwo dazwischen. Aber am Ende geht es beim Elternsein doch immer darum, die Kinder bei der Erkundung der Welt zu unterstützen und ihnen dabei zu helfen, eine gesunde Handlungskompetenz zu entwickeln.

Deshalb würde ich Eltern unbedingt empfehlen, sich darauf zu konzentrieren, Bedingungen mit ihren Kindern auszuhandeln, die es ihnen ermöglichen, am Leben teilzunehmen und gleichzeitig zu begreifen, warum gewisse Grenzen gesetzt werden. Das erfordert Kommunikation und Energie und keineswegs neue Technik, die gesetzte Grenzen überwacht. In den meisten Fällen sendet Letzteres die falschen Signale und geht nach hinten los, ungefähr so wie in der bereits erwähnten „Black Mirror“-Folge.

Viel Glück, liebe Eltern – Erziehung ist ein ständiges Abenteuer, in dem Freund und Leid sich die Waage halten.

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