Die App geht auf und sofort beginnt der Rausch. Ein geschminktes Mädchen verzieht zu einem Liebeslied dramatisch das Gesicht. Wisch. Eine zierliche Gestalt im Kapuzenpulli tanzt per Splitscreen synchron mit einem grünen Männchen. Wisch. Die 15-jährigen musical.ly-Stars Lisa und Lena formen die Finger zu Monsterkrallen, dazu läuft „The Monster“ von Eminem und Rihanna. Wisch.
musical.ly hat ein hohes Tempo: Jedes Musikvideo dauert nur 15 Sekunden. Die Playback-App ist ein Fenster zu fremden Wohnungen, Waschküchen und Garagen. Überall, wo sie Platz finden und ungestört sind, singen, spielen und tanzen Nutzerinnen und Nutzer zu ihren Lieblingssongs.
In den kurzen Videos, von dem Dienst selbst „musical.lys“ genannt, geht es weniger um Perfektion als um Spontaneität und Originalität. Die fertigen Clips laden die „Muser“ (Nutzer) in ihrem Profil hoch, wo andere sie sich ansehen und mit Herzen markieren können.
Diejenigen, die die Plattform hauptsächlich mit Videos bespielen und dort Herzen an andere verteilen, sind sehr jung. Am beliebtesten ist die App unter Teenagern. Sie haben die süddeutschen Zwillinge Lisa und Lena 2016 berühmt gemacht, indem sie millionenfach das Profil der Gleichaltrigen aufriefen und auf „Folgen“ tippten. musical.ly ist ansteckend: Nicht wenige wünschen sich einen ähnlichen Erfolg, wie ihn die Zwillinge haben.
Kaum jemand stellt die App auf privat
Zu den eifrigen Performern gehören auch viele Kinder. Laut Nutzungsbedingungen ist eine Anmeldung bei musical.ly zwar erst ab 13 Jahren erlaubt – um dieses Problem zu umgehen, genügt jedoch die Angabe eines falschen Geburtsdatums.
Nicht einmal echte Kontaktdaten sind nötig: Die eingetippte E-Mail-Adresse wird nicht überprüft. Genauso wenig wie die Einverständniserklärung der Eltern, die laut musical.ly für Nutzer unter 18 Jahren Voraussetzung ist.
In einem neu angelegten musical.ly-Profil sind alle Beiträge standardmäßig öffentlich. Wer diese Einstellung nicht aktiv ändert, kann von jedem anderen Nutzer gefunden und per Kommentar oder Direktnachricht kontaktiert werden.
Auf „privat“ gestellte Profile sind bei musical.ly in der Unterzahl. Zum Generieren von Aufmerksamkeit ist ein geschlossenes Profil von Nachteil – nur bestätigte Nutzer können dann Herzen vergeben, kommentieren und folgen. Selbst wenn die Möglichkeit bekannt ist, sich auf diese Weise privaten Raum zu verschaffen – für diejenigen, die sich viel Bestätigung durch hohe Like- und Follower-Zahlen wünschen, ist sie wenig attraktiv.
Unheimliche Parallelwelt: #bikini und #bellydanc
Ein Weg zu großer Aufmerksamkeit und Anerkennung, da funktioniert musical.ly nicht anders als das professionelle Showgeschäft, ist das Zeigen von sehr viel Haut. Das Problem: Bei musical.ly handelt es sich erschreckend oft um die Haut sehr junger Mädchen.
Die Tür zu einer unheimlichen Parallelwelt innerhalb des sozialen Netzwerks öffnen Hashtags wie #bellydanc oder #bikini und deren Variationen. Mit der korrekten Schreibweise „bellydance“, englisch für „Bauchtanz“, funktioniert die Hashtag-Suche nicht – vermutlich, weil das Wort vom App-Anbieter blockiert wird.
Wer #bellydanc oder #bikini ins Suchfeld eingibt, findet zehntausende Videos von Mädchen, die knapp bekleidet oder im Bikini aufreizend tanzen, während Profile namens „Wickedluver69“ oder „mhberlindauergeilxxl“ sie dafür mit Lob und Herzen überhäufen.
Die Herkunft der jungen Tänzerinnen ist bunt gemischt, die Kommentarsprache meistens Englisch.
Gefährliche Zuschauer und der Traum, entdeckt zu werden
Nicht alle Videos, die man unter diesen Hashtags findet, wurden von Minderjährigen produziert und nicht alle sind über die Maßen aufreizend – aber viele.
Nutzer wie „Wickedluver69“ oder „mhberlindauergeilxxl“, die vor allem freizügige Videos junger Mädchen abonnieren, tauchen in der App ausschließlich als Zuschauer auf. In den Kommentaren fordern sie die Mädchen dazu auf, vor der Kamera bestimmte Dinge zu tun, motivieren sie zur Produktion weiterer Videos und bieten an, sie zu „featuren“.
Jemanden auf musical.ly zu „featuren“ heißt, seine oder ihre Videos auf einem extra dafür angelegten Themen-Profil hochzuladen – angeblich, um den Videos auf diese Weise zu mehr Publikum zu verhelfen.
Dafür muss die Besitzerin ihr Video per Direktnachricht weitergeben. Wie die umfangreichen öffentlichen Sammlungen solcher selbsternannten „Talentsucher“ beweisen, stellen unzählige Mädchen ihre Videos freiwillig zur Verfügung.
Folgt man den einschlägigen Hashtags über die Kommentare, in denen Features angeboten werden, auf die Profile dieser Nutzer, entdeckt man dort umfangreiche Sammlungen. Die Nutzer weisen ihre Profile entsprechend aus, sie heißen „hot_features“, „daddys_girlz“, „hotbellydancinggirls“ „bellydancerfan“ oder „LoveYourBelly“.
Geben Mädchen ihre Videos an diese Nutzer per Direktnachricht weiter, verlieren sie die Kontrolle über die oft sehr freizügigen Aufnahmen, denn sie können sie nun nicht mehr selbst aus dem Netzwerk entfernen.
Die Video-Sammler lassen ihre Absichten in ihren Profilen durchaus erkennen. Nicht selten steht das Angebot, Videos mit anderen gleichgesinnten Sammlern zu tauschen, gleich mit dabei. Um noch direkteren Kontakt zu den Produzentinnen zu erlangen, versuchen manche Nutzer, die Mädchen zu Snapchat oder anderen Messengern zu locken.
Kleine Mädchen filmen sich beim Tanzen in Unterwäsche
Nicht wenige der aufreizend tanzenden Mädchen sind weit entfernt vom Jugendlichenalter. Manche sind nicht älter als sieben oder acht Jahre.
Einige der Nutzer, die die #bellydanc-Videos auf ihrem Profil sammeln, sind auf besonders kleine Mädchen spezialisiert. Diese Acht- und Neunjährigen tanzen in Unterwäsche oder sitzen breitbeinig in ihren Kinderzimmern, die Handykamera direkt auf ihren knapp bekleideten Unterleib gerichtet.
Die Belohnung für ein solches Video sind hunderte Herzen und lobende Kommentare wie „Oh my God so beautiful“, „hot“ und „sexy!“ Selbst, wenn die Mädchen noch kein Englisch sprechen – diese Schlagworte sind leicht zu verstehen.
Die kleinen Filmerinnen haben eins verstanden: Nichts bringt ihnen so viel Aufmerksamkeit wie Videos, die sich mit Hashtags wie #bellydanc verlinken lassen. Da hunderte Mädchen solche Videos produzieren, scheint es nichts Unnormales mehr zu sein – und immer mehr machen mit.
Was tut musical.ly gegen das Problem?
Schon im Dezember 2016 sagte der musical.ly-Gründer Alex Zhu, dass ihm bewusst sei, dass Mädchen unter 13 Jahren die App nutzen und dass dabei Videos in sehr knappen Outfits entstehen. Das Unternehmen verwende „sehr viel Personalkraft und technische Hilfsmittel“ darauf, die App für alle Nutzer sicher zu gestalten, erklärte Zhu. (YouTube-Video des Interviews hier, ab Minute 09:35.)
Innerhalb der App können unangemessene Beiträge und Nutzer über eine Funktion gemeldet werden. In den Fällen, in denen dies unmittelbaren Erfolg zeigt und ein Profil gelöscht wird, löst dies das Problem jedoch nicht – gesperrte Nutzer legen sich einfach neue Profile an, oft unter so ähnlichem Namen, dass die Community sie problemlos wiedererkennt.
Ähnlich wirkungslos bleibt der Versuch, einschlägige Suchwörter zu blockieren, wie die Umgehung des blockierten Hashtags „bellydance“ beweist.
Begünstigt musical.ly ein System sexueller Nötigung?
Auf die Probleme angesprochen, wies App-Gründer Zhu 2016 darauf hin, dass jede frei nutzbare Social-Media-Plattform ein Risiko missbräuchlicher Nutzung mit sich bringe. Doch die von musical.ly geschaffenen Bedingungen scheinen ganz besonders ungünstig zu sein.
Die App ist perfekt auf die Bedürfnisse Minderjähriger zugeschnitten, auch, weil sie die Teilnahme am Netzwerk so einfach macht. Sexy tanzende Vorbilder gibt es innerhalb und außerhalb von musical.ly mehr als genug – die Nachahmung wird durch die Struktur der App besonders leicht. Gleichzeitig wird Kindern und Jugendlichen suggeriert, sie könnten über Nacht zum Star werden, wenn sie nur gut genug gefallen.
Durch diese Anreizstruktur in Kombination mit der leichten Nutzbarkeit, kaum Sicherheitsmaßnahmen sowie der integrierten „Feature“-Möglichkeit, die selbsternannte „Talentsucher“ innerhalb der App vertrauenswürdig erscheinen lässt, entsteht auf Musical.ly etwas, das für uns wie ein System strukturierter sexueller Ausnutzung und Nötigung minderjähriger Nutzerinnen aussieht.
Was die Erfahrung mit den Mädchen macht
Mädchen, die aufreizend tanzen, sind auf musical.ly zum Massenphänomen geworden. Selbst, wenn der Kontakt virtuell bleibt, machen sie sich damit psychisch verletzlich, denn sie werden zum Sexobjekt, meist ohne dies einordnen zu können.
In einer Dokumentation des britischen Fernsehsenders Channel4 berichtet ein Vater, dass seine Tochter nach unangenehmen Erfahrungen mit anderen Musical.ly-Nutzern verändert und in sich gekehrt wirkte. In einer aktuellen österreichischen Studie berichtet die 17-jährige Lena, dass sie frühere schlechte Erfahrungen im Internet noch Jahre später beschäftigen:
„Ja, ja, voll da hab ich ur Angst, da denk ich oft dran und bereue viele Sachen. Ich war ur arg, ich hab ur die argen Sachen gemacht, auf Chatroulette teilweise mit diesen Männern masturbiert, das wäre mir sehr unangenehm, da war ich halt 12, 13, hab dran nicht gedacht.“
„Komplexes Problem“ der Social-Media-Industrie
Mit den Vorwürfen konfrontiert sagte ein Unternehmenssprecher in einer Stellungnahme an mobilsicher.de: "musical.ly verfügt über eine Vielzahl an Schutzmaßnahmen und Rund-um-die-Uhr-Moderation, um die Möglichkeiten einer missbräuchlichen Nutzung der App zu reduzieren.
Leider sind diese Schutzmaßnahmen nicht immer tadellos, und die verwiesenen Beispiele von Missbrauch spiegeln weder die für musical.ly typischen Inhalte oder Nutzungsmuster wider, noch reflektieren sie, wofür musical.ly als Social-Entertainment-App steht."
Man erkenne aber generell ein "komplexes Problem" in der Thematik und arbeite daran, die Schutzmaßnahmen auszubauen. "Es gilt, dieses Problem als Industrie zu lösen", sagte der Sprecher.
Bis dahin sind - mal wieder - die Eltern gefragt. Nicht nur mit der Aufgabe, ihre Aufsichtspflicht auch im Internet wahrzunehmen und Ihre Kinder dort nicht allein zu lassen. Sondern auch mit dem Hinweis, dass man solche Zustände nicht einfach hinnehmen muss.
Meldestellen, Jugendschutz-Organisationen, Schulen und Behörden müssen von dem Problem wissen. Denn es ist auch Aufgabe der Öffentlichkeit, ein sicheres Umfeld für Kinder zu gewährleisten - auch im Internet.
Aktiv kann übrigens jeder werden und einige tun das schon. So bedanken wir uns bei einer jener engagierten Einzelpersonen, die diese Szene auf musical.ly beobachten, Nutzerinnen warnen und übergriffige Profile melden. Sie hat uns auf das Problem aufmerksam gemacht und uns mit Hilfe von dokumentiertem Material wichtige Hinweise gegeben.
Updates
- 24.04.2018, 14.45 Uhr: musical.ly äußerte sich erst nach der Veröffentlichung des Textes zur Sache. Der Text wurde entsprechend ergänzt. Zum ganzen Statement von musical.ly geht es hier.
- 02.08.2018: musical.ly existiert als eigenständige App nicht mehr. Der Anbieter, das chinesische IT-Unternehmen ByteDance, hat musical.ly Anfang August 2018 in der ähnlichen Kurzvideo-App Tik Tok aufgehen lassen. Bisherige Nutzerprofile und Inhalte werden automatisch in Tik Tok übertragen.
Über musical.ly
- Rund 60 Millionen Menschen nutzen musical.ly pro Monat (Stand November 2017). In Deutschland besuchen die Plattform 17 von 100 Mädchen und fünf von 100 Jungen zwischen 12 und 19 Jahren mindestens einmal pro Woche (JIM-Studie 2017).
- Entwickelt wurde musical.ly von den beiden Chinesen Louis Yang und Alex Zhu. Seit der Veröffentlichung 2014 wurde die App mehr als 100 Millionen Mal aus dem Google Play-Store heruntergeladen. Ende 2017 kaufte das chinesische Medienunternehmen Beijing Bytedance Technology die App für einen Preis zwischen 800 Millionen und einer Milliarde US-Dollar.
Mehr zum Thema im Internet
- Einen Elternratgeber finden Sie hier: "musical.ly: Die Musik-App mit Starpotenzial"
- Hier geht's zur aktuellen österreichischen Studie "Sexuelle Belästigung und Gewalt im Internet in den Lebenswelten der 11- bis 18-Jährigen"
- Eine repräsentative deutsche Studie (2017) zu Jugend, Information und (Multi-) Media finden Sie hier.
- Eine lesenswerte Studie dazu, dass schon sehr junge Mädchen Sexualisierung für normal halten, hat Sarah Dangendorf vorgelegt: Kleine Mädchen und High Heels (Transcript-Verlag 2012).